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DLG-Präsident Bartmer eröffnet Agritechnica

Herzlich willkommen zur Agritechnica 2015 in Hannover, herzlich willkommen zur weltgrößten Landtechnikausstellung, die traditionell mit dem heutigen Max-Eyth-Abend feierlich eröffnet wird. Hannover ist in dieser Woche die Hand am Puls, am Puls der globalen Landtechnikindustrie, ein Leistungsfenster Agritechnica, einmalig in Größe und Internationalität. 400.000 qm Ausstellungsfläche, damit ist das größte Messegelände der Welt bis auf den letzten Quadratmeter gefüllt.
 
Es erfüllt mich mit besonderer Freude, dass die Rolle der Agritechnica als Weltleitausstellung sich immer deutlicher manifestiert. Unsere internationalen Gäste stellen mit einem Anteil von 56 % deutlich die Mehrheit der über 2.900 Aussteller. Die Agritechnica istdas globale Schaufenster für moderne Landtechnik.
 
Eine Landwirtschaft der Zukunft in aller Vielfalt zu verstehen, Möglichkeiten auszuloten, aber auch konkrete Lösungen und Konzepte zu entwickeln – wir würden scheitern, wenn wir uns auf einen nationalen, selbst auf einen europäisch verengten Blickwinkel beschränken würden. Landwirtschaft und Landtechnik von morgen inspiriert sich aus der Vielfalt der Erfahrungshorizonte, sie ackert im „global village“. Und gerade deshalb begrüße ich Sie, meine Damen und Herren, unsere internationalen Gäste. Seien Sie uns herzlich willkommen auf der Agritechnica 2015.
 
Es gibt wohl kaum einen Technologiebereich, dessen technische Errungenschaften von einer ähnlich breiten weltweiten Community inspiriert werden. Hinter den Entwicklungen, die in diesen Tagen in glänzende Maschinen geschmiedet, gepresst und geschraubt sind, stehen begeisterte Ingenieure, aber auch Erfahrungen und Impulse von hunderttausenden von Agrarunternehmern in aller Welt. Es sind Ideen, die in der staubigen, in der anstrengenden Wirklichkeit der landwirtschaftlichen Praxis entstehen, dort, wo jeder Quadratmeter, jedes Feld, jede Region, jeder Kontinent anders ist, jeder Tag mit seinem Wetter, jedes Jahr mit seinen klimatischen Verwerfungen.
Landwirtschaft ist eine Herausforderung an unseren Einfallsreichtum, Fragen, die im Netzwerk aus Wissenschaft, Entwicklungskunst und Ingenieurfertigkeit zu Antworten aus Stahl und Elektrohydraulik werden. 23 Hallen, 40 ha, hier präsentieren sich im Licht der Scheinwerfer die Antworten auf die großen globalen Herausforderungen, eine stärker als die andere, manche sogar ausgezeichnet mit Gold- und Silbermedaillen, wie wir gleich miterleben werden. Danke in diesem Zusammenhang der hochkarätig besetzten Neuheitenkommission um Herrn Prof. Köller für ihre wertvolle Arbeit.
 
Meine sehr verehrten Damen und Herren, draußen sehen wir die letzten Spuren eines goldenen Herbstes. Die Aussaaten stehen kräftig in frischem Grün, und in den Hallen findet sich das Pendant: Helle Scheinwerfer, eine strahlende Atmosphäre, leuchtende Augen, auf glänzende Maschinen gerichtet, PS-Bolliden, gigantische Arbeitsbreiten, IT, Landwirtschaft 4.0, erleben wir eine Branche in überschäumender Sektlaune?
 
Der Blick auf die Agrarmärkte löst aktuell keine Begeisterungsströme aus. Das gilt für den Landwirt, aber auch in der Folge für die Landtechnikindustrie und andere Unternehmen des Agribusiness. Die Ursachen sind konjunktureller Natur, sie sind aber auch Ausdruck von erheblichen Produktivitätsfortschritten – und das ist unser, das ist ihr Erfolg!
 
Ja, eine Reihe weltweit außergewöhnlicher Ernten, in denen uns große klimatisch bedingte Einbrüche in wichtigen Anbauregionen erspart geblieben sind, haben die Vorräte steigen lassen. Preise sind Knappheitsindikatoren und entsprechend gefallen. Wir sollten darüber nicht klagen, denn welche Branche kann schon stolz feststellen, dass sie bei so essenziellen Produkten wie Lebensmitteln in der Lage war, in den letzten 20 Jahren 2,2 Mrd. Menschen, also fast ein Drittel der heutigen Bevölkerung, zusätzlich und ausreichend mit Produkten höchster Qualität ernähren zu können. Befriedigen kann uns das nicht, da nach wie vor 750 Millionen Menschen Hunger plagt, das Millenniumsziel bei weitem nicht erreicht ist. Und trotzdem können wir stolz sein, dass wir einen Anstieg der Nachfrage nach Agrarprodukten, der in der Geschichte ohne Beispiel ist, so gut gemeistert haben. Das lag daran, dass diese Branche schon früh und unabhängig vom Commodity-Hype der Finanzmärkte in die Zukunft investiert hat, dass sie, wie heute, Konsolidierungsphasen zur Stärkung ihrer Effizienz genutzt hat. Investitionen in Landtechnik, in intelligente Technologien und Verfahren sind eben nicht eine Funktion von Preisen und Liquidität sondern Folge des sorgfältigen Abwägens von Chancen und Risiken, von Kosten- und Nutzenerwägungen
 
Und Nutzen, dabei stößt die Agritechnica 2015 ein großes Tor weit auf. Mechanik, der perfekt geformte Stahl in der Erntemaschine, in der Bodenbearbeitung, die immer exakteren hydraulischen und elektrischen Antriebssysteme, Motoren, weltmeisterlich in der Leistung, weltmeisterlich auch in der Emissionsreduktion – verifiziert durch den PowerMix-Test der DLG - da scheint dem Automobilsektor etwas zu fehlen -, das sind nur einige Beispiele einer zutiefst beeindruckenden Fortführung von Entwicklungslinien der vergangenen Jahre.
Nein, nicht geboren aus dem Nichts, aber mit einer noch nie dagewesenen Dynamik bestimmt die Elektronik das Gesicht der Agritechnica 2015. Landwirtschaft 4.0, so klingt es fast andächtig in den Gängen, ein Digitalisierungspfad, der in der Industrie oft zitiert, in der Landwirtschaft schon selbstverständliche Anwendung gefunden hat.
 
Warum? Ein Landwirt, wirtschaftete er in Europa oder den USA, in Afrika oder Asien, er hat einen der wohl komplexesten Produktionsprozesse zu beherrschen, den man sich vorstellen kann. Er muss das biologische System Pflanze verstehen, mit ihren Ansprüchen, ihren Reaktionsmustern, er muss das natürliche Substrat, in dem die Pflanze wächst, den Boden, mit seinen kleinräumigsten Unterschieden und variierenden Aggregatzuständen berücksichtigen. Er wirtschaftet unter freiem Himmel mit aller Varianz an Temperatur, Strahlung, Niederschlag und Luftfeuchtigkeit. Er trifft vielfach Entscheidungen unter Unsicherheit, weil zukünftige Wachstumsbedingungen zu antizipieren sind. Logistik, Lagerhaltung, Veredelung und Vermarktung … die Reihe ließe sich lange fortführen.
 
Landwirtschaft 4.0, präzise Handlungsanweisungen durch intelligente Algorithmen, Entscheidungen nur noch aus dem Headquarter eines Betriebes – das bleibt wohl eine Illusion. Gebraucht werden Instrumente, die Entscheidungen unterstützen und Teilprozesse automatisieren. Genau dies ist heute Stand der Technik: Sensorgestützte Informationsgewinnung, satellitenbasierte Orientierung, bisher unvorstellbare Präzision durch elektronische Steuerungssysteme, von der Fahrspur bis zur Saatgutablage, komplexe Algorithmen als Entscheidungshilfe, intelligente Kombination von Hardware und Informationstechnologie, Farmmanagementsysteme, die einfachen Zugriff auf Daten des Betriebes für verschiedenste Anwendungen ermöglichen. Die Agritechnica zeigt sie in dieser Woche, die vielen praxisreifen Lösungen.
 
Wir wären nicht DLG, wir wären nicht die Organisation zur Inspiration von Fortschritt, wenn wir nicht Realismus einforderten und auf zu lösende Aufgaben hinwiesen. Realismus heißt, es bleibt wohl eine Illusion, die komplexen Managemententscheidungen eines Landwirtes allein von der IT treffen zu lassen. Ackerbau geht nicht vom Schreibtisch! Richtig ist, dass Elektronik zahlreiche neue Möglichkeiten zur Abstützung von Entscheidungen offeriert. Zweifellos warten aber wichtige Themen auf Antworten:
 
Die Zeit der Insellösungen muss Geschichte sein. Funktionssichere Schnittstellen mögen uns Erfahrungen wie beim Isobus ersparen. Und offen müssen sie sein, die Schnittstellen, weil wir – und für nichts anderes steht die Agritechnica - den Wettbewerb der leistungsfähigsten Systeme zulassen müssen. Wer der inhärenten Versuchung erliegt, seine Kunden mittels Landwirtschaft 4.0 vor dem Wettbewerb der anderen Hersteller zu „schützen“, wird sich gerade den Zugang zu dessen Kunden verbauen. Das sind möglicherweise viel wichtigere Fragen als die der Datensicherheit, die auf dezentralen Speichern ohnehin überschätzt wird. Apropos Daten, Landwirtschaft 4.0 funktioniert nur, wenn auch technisch Daten im ländlichen Raum schnell ausgetauscht werden können. Sehr geehrter Herr Minister Schmidt, leistungsfähige Datennetze wäre ein Feld herausragender Profilierung für Ihren Kabinettskollegen.
 
Goldener Herbst, grüne Saaten, eine strahlende Atmosphäre in den Hannover Messehallen, glänzende Maschinen, Landwirtschaft 4.0, eine Branche im selbstüberhöhten Rausch des Möglichen? Ein marketinggetriebener Hype des größer, schneller, weiter, immer auf der Suche nach dem Kunden, um ihm einen entsprechenden Bedarf zu suggerieren? Meine Damen und Herren, Entwicklungen, wie man sie in dieser Woche in Hannover sehen kann, sind nicht Hype, sie sind realistischer Umgang mit der Lebenswirklichkeit.
 
Das eine oder andere Mal prophezeit wurde es in diesem Jahr bedrückende Wirklichkeit: Hundertausende, Millionen von Füßen, über den Balkan, durch das Mittelmeer sich schleppend, Menschen, die Strapazen, unvorstellbare Risiken für Leib und Leben auf sich nehmen. Ja, es ist Zurückhaltung geboten, wenn man die komplexen Gründe von Migration analysiert, wenn man sie möglicherweise allein auf Ernährungskrisen und deswegen als Begründung für eine fortschrittliche produktivere Landwirtschaft heranziehen möchte.
 
Aber diese Migration ist ein starkes Zeichen, eine Aufforderung zu mehr Ernsthaftigkeit in den Debatten. Globalisierung ist keine Einbahnstraße zum Nutzen entwickelter Gesellschaften, Globalisierung ist mehr als neue Absatzmärkte und damit Einkommensmöglichkeiten. Globalisierung ist zweifelsfrei auch die Globalisierung von Lebensbedingungen, die Globalisierung des Rechtes, am Wohlstand, an den Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, an der Rechtsstaatlichkeit und Freiheit dieser Welt zu partizipieren. Und gerade in Zeiten moderner Medien, der allgegenwärtigen Smartphones wissen Menschen in Afrika, in anderen Krisenregionen, wovon sie sprechen, wenn sie Teilhabe fordern. Die Flüchtlingsströme sind ein Symbol dafür, dass Komfortzonen in Industrieländern mit ihren egozentrischen Zielvorstellungen von einer bedürftigen Welt auf Dauer nicht akzeptiert werden.
 
Die Schwelle, sein Land zu verlassen, insbesondere bei erkennbar schlechter Regierungspolitik, bei Krieg, diese Schwelle ist laufend gesunken und jeder, der Flüchtlingszahlen für die Zukunft prognostizieren soll, wird sich schwer tun, Gründe für einen Rückgang zu identifizieren.
 
Was hat das mit moderner Landwirtschaft zu tun? Teilhabe beginnt mit ausreichender Ernährung. Das hat die Arabellion gezeigt, Syrien und viele Länder des schwarzen Kontinents beweisen es. Auch die wirtschaftliche Geschichte Europas begann mit einer Entwicklung im Agrarbereich. Man glaubt es kaum, im 19. Jahrhundert hat es noch Hungersnöte in Europa gegeben, Millionen verließen die Mitte dieses Kontinents, hinaus in die „Neue Welt“, nach Nord- und Südamerika, nach Australien, in den Süden Afrikas. Erst die Fortschritte in Züchtung, Düngung, in der Technik, mehr Wissen und Können in den Prozessen haben die Ernährungsfrage gelöst, Bildung verbreitert und so Urbanisierung, gewerbliche und industrielle Entwicklung ermöglicht. Das gilt heute nicht anders. Sehr verehrter Herr Minister Schmidt, Ihrem Beitrag zum Welternährungstag ist nichts hinzuzufügen: „Der Schlüssel zur … Stabilität in der Welt ist die Landwirtschaft.“
 
Das wissen Menschen, lebten sie in Peking, Jakarta, Khartum oder Sao Paolo, sie wissen um die Notwendigkeit ausreichender Lebensmittel, preiswerter und qualitativ besser. Sie erleben hautnah die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung, die Folgen von Urbanisierung, sie suchen die Früchte hoffentlich weiter steigender Einkommen in vielfältigen, veredelten Produkten.
 
Wie fatal, wenn die Welt auf ihre Wünsche nur mit steigenden Preise für Lebensmittel antworten kann, wie zynisch, wenn wir aus unserem wohlständigen Erfahrungshorizont geboren für die Weltbevölkerung fleischarme Kost empfehlen, regional geschlossene Stoffkreisläufe, den Rückgriff allein auf indigene Produktionssysteme. Eine Wirtschaftsethik der Genügsamkeit mag den einen oder anderen Kirchenvertreter begeistern, Millionen werden mit dem Kopf schütteln, dort, wo Wachstum zunächst das Wachstum der eigenen Familie ist. Sie werden beklagen, dass die Förderung von fortschrittsaversen, übermäßig Agrarfläche beanspruchenden Produktionssystemen Lasten verursachen, die sie, die Ärmsten, am Ende zu tragen haben. Ist das nicht eine besonders perfide Form von ideologischem Neo-Kolonialismus.
 
Eine neue Ernsthaftigkeit der Diskussion angesichts der abertausend Flüchtlinge bestätigt: Der tragfähigere Gegenentwurf ist Fortschritt, so wie er sich in diesen Tagen auf der Agritechnica in seiner ganzen Vielfalt präsentiert. Dieser Fortschritt ist ein starker Beitrag, die Ressourcen unseres Planeten nachhaltiger zu nutzen. Übrigens, und das ist eine gute Tradition aufgeklärter Gesellschaften, ihn immer wieder in seiner Richtung zu hinterfragen. Dem widmet die DLG im Januar eine ganze Wintertagung.
 
Fortschritt in der Landwirtschaft ist ungemein sozial, keine Grenze kann ihn aufhalten. Dafür stehen 52 ausstellende Länder und Besucher aus über 100 Nationen. Fortschritt nutzt großen und kleinen Betrieben, er nutzt im HighTech-Betrieb und solchen an der Schwelle zur Modernisierung. Globalisierung in der Agrarproduktion mit internationaler Arbeitsteilung, mit freiem Handel, der nachhaltigen Nutzung unseres Planeten verpflichtet, der löst zwar nicht kurzfristig das Migrationsthema. Er gibt aber jenen eine Chance, die heute ihr Land verlassen, morgen in ihrer Heimat eine Perspektive zu finden, in gesicherten und verbesserten Lebensumständen.
 
Sie, in den Entwicklungslabors Ihrer Unternehmen, in den Werkstätten, im Staub und Schlamm der weltweiten Wirklichkeit, Sie sind deshalb die wahren Arbeiter im Weinberg des Herrn. Ihnen gebührt unser Respekt und unsere Anerkennung, eine Sympathie auch einer kritischen Gesellschaft, die Moderne in der Landwirtschaft vielleicht mehr für Fluch als für Segen hielt. Die neue Ernsthaftigkeit, die Millionen Flüchtlinge einfordern, wird das grundlegend hinterfragen. Fortschritt, wie er sich in diesen Tagen auf der Agritechnica präsentiert, ist das Produkt von unser aller Wissen. Dieses Wissen wollen wir nutzen, weil wir uns unserer Verantwortung stellen.
 
Sehr verehrter Herr Dr. Garbers, Vorsitzender des VDMA Landtechnik und somit bewährter Partner, das ist die Botschaft unserer Agritechnica, das ist der Erfolg unserer langjährigen vertrauensvollen Zusammenarbeit. Vielen Dank an Sie und Ihre Mitstreiter.
 
Mein Dank gilt Ihnen, Herr Prof. Pickel, und dem VDI Fachbereich Max-Eyth-Gesellschaft Agrartechnik. Glückwunsch zu Ihrer beeindruckenden Ingenieurstagung zum Auftakt der Agritechnica!
 
Danken möchte ich unseren fachlichen Partnern, ohne die eine Agritechnica in dieser Breite und konzeptionellen Tiefe gar nicht vorstellbar wäre.
 
Hannover mit seinem innovativen und trotz Größe übersichtlichen Messegelände in der Mitte Europas ist für die Agritechnica ein idealer Ort. Vielen Dank, sehr geehrter Herr
Dr. von Fritsch, als Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Messe AG und ihrem Vorstandskollegen Dr. Köckler für die bewährte und immer wieder inspirierende Zusammenarbeit.
 
Nicht zuletzt gilt mein Dank auch Ihnen, liebe Frau von Czettritz, DLG-Projektleiterin der Agritechnica, gemeinsam mit ihrem phantastischen Team.
 
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nunmehr ist es mir eine große Freude zu erklären: Die Agritechnica 2015 ist eröffnet!

Quelle: DLG